Switzerland, Europe and the world (de)
Luzern, KKL, 26.11.2025 — Address by Federal Councillor Ignazio Cassis, Head of the Federal Department of Foreign Affairs (FDFA) on the occasion of the European Economic Forum in Lucerne – Check against delivery
Geschätzte Damen und Herren
Liebe Anwesende
Es freut mich hier am “European Economic Forum” zu sein, ein Anlass zwischen “World Economic Forum” und “Swiss Economic Forum”. Aus meiner Sicht ein spannender Ort, um diese Reibungsfläche einmal genauer zu betrachten. In welcher Welt leben wir heute – und was bedeutet das für uns?
Die Schweiz in einer Welt im Wandel
Wir alle können in den letzten dreissig Jahren auf gewaltige Fortschritte zurückblicken: Die Menschen leben heute gesünder und länger als je zuvor. Seit Beginn letzten Jahrhunderts hat sich die weltweite Lebenserwartung mehr als verdoppelt. Die Kindersterblichkeit ist weltweit dramatisch gesunken. Und der Anteil der Menschen in extremer Armut ist in den letzten 30 Jahren weltweit von 30 auf unter 10 Prozent gefallen. Und selbst in der Schweiz ist das BIP pro Kopf in dieser Zeit nochmals um über 50 Prozent gestiegen.
Wir kommen also aus einer Zeit unvorstellbarer Verbesserungen – doch kaum jemand spricht darüber.
Fortschritt hat ein Imageproblem.
Gleichzeitig wächst bei vielen das Gefühl, dass alles aus den Fugen gerät. Die Demokratie steht weltweit unter Druck: Nur noch acht Prozent der Menschheit leben in einer liberalen Ordnung.
Zölle werden erhöht, Handelsabkommen zerlegt, internationale Regeln ignoriert. Nicht das Recht regiert – sondern das Faustrecht. Gemeinsame Lösungen weichen dem Alleingang.
Grossmächte setzen ihre Interessen durch – wenn nötig mit Gewalt. Manche führen Kriege, um alte Imperien wiederherzustellen.
Und wir in der Schweiz?
Auch bei uns bröckelt das Vertrauen. Die Erwartungen sind grenzenlos, Rechte werden eingefordert – Pflichten geraten in den Hintergrund.
Der Wohlstand hat uns derart vereinnahmt, dass Fortschritt oft daran scheitert, dass wir Veränderung mehr fürchten als Abstieg.
Wir verlieren uns im Lärm des Richtungsstreits der politischen Pole, ohne zu merken, dass sie beide in die gleiche Richtung ziehen: In eine Vergangenheit, die idealisiert wird.
Der nüchterne Blick auf die Realität aber zeigt:
Wir stehen an einem Wendepunkt. Einem Wendepunkt zwischen Fortschritt und Rückschritt, zwischen globaler Kooperation und geopolitischer Rivalität. Zwischen demokratischer Erneuerung – und autoritärem Rückfall. Die Schweiz ist nicht nur Zuschauerin, sondern mittendrin.
Gerade in einer Welt, in der Geopolitik immer wichtiger und zugleich aggressiver wird, besteht die zentrale Herausforderung darin, unsere bottom-up geprägte Innenpolitik mit der top-down geprägten Logik der Aussenpolitik zu verbinden.
Ideologie hat dabei keinen Platz. In dieser Weltlage braucht es Klarheit. Und Haltung.
“Sowohl als auch” statt “Entweder oder”
Die Schweiz ist ein ressourcenarmes Land – und stark auf die Welt angewiesen. Rohstoffe und Energie kommen aus dem Ausland. Fachkräfte, Halbleiter und Maschinen ebenso. Unsere Wirtschaft lebt vom Austausch – mit Europa, den USA, China und vielen anderen. Ohne verlässliche internationale Beziehungen steht auch bei uns schnell alles still.
Geschätzte Damen und Herren
Solche Abhängigkeiten sind Realität – und wer sie erkennt, kann mit ihnen souverän umgehen. Genau das ist unsere Stärke: Wir gestalten unsere Abhängigkeiten so, dass sie tragfähig werden. Und daraus erwächst echte Unabhängigkeit.
Unsere Stärke liegt also weder in militärischer Macht noch in Bevölkerungsgrösse, sondern in unserer Glaubwürdigkeit, unserer institutionellen Stabilität und der Qualität unserer Verträge. Deshalb gehört die Schweiz zu den globalisiertesten Ländern der Welt.
Wir wissen: Verträge schaffen Sicherheit. Regeln schaffen Verlässlichkeit. Eine offene Wirtschaft ist unsere Lebensader.
Und in dieser Phase globaler Umbrüche kann die Schweiz nicht stillstehen.
Der Bundesrat muss die Grundlagen unserer Prosperität stärken – also jene Abkommen, die unsere Beziehungen mit der Welt regeln.
Das gilt insbesondere für die EU, die USA und China. Mit allen dreien wollen wir die Handelsbeziehungen stabilisieren und erneuern.
Innenpolitisch ist darüber bereits ein intensiver Richtungsstreit entbrannt. Der Bundesrat vertritt aber einen pragmatischen Ansatz: Nicht entweder–oder, sondern sowohl–als–auch.
Keiner dieser Verträge ist ein Unterwerfungsvertrag. Alle widerspiegeln unsere Verantwortung für das Wohlergehen unserer Bevölkerung.
Wir hoffen mit allen drei Ländern im nächsten Jahr zu einem Abschluss zu kommen.
Herausragende Bedeutung der EU
Unser wichtigster Partner bleibt bei weitem die Europäische Union: Allein der Warenhandel beläuft sich auf rund 300 Milliarden Franken – jedes Jahr.
Man kann es einfach ausdrücken:
Für jedes Zwei-Franken-Stück, das wir in der Tasche haben, hängen rund fünfzig Rappen von Europa ab.
Das zeigt: Diese Beziehung ist kein Detail, sondern die Basis unseres Wohlstands.
Natürlich sind auch die USA und China wichtige Partner. Aber die Zahlen sprechen für sich: Mit den USA handeln wir etwa ein Fünftel dessen, was wir mit der EU austauschen – mit China gerade einmal ein Zehntel. Die Geografie schafft Fakten. Wir sind mit der EU nicht nur Nachbarn – wir sind Teil derselben Schicksalsgemeinschaft. Diese Realität prägt unsere Diskussion bis heute.
Und vielleicht wird gerade deshalb über kein anderes Thema so leidenschaftlich gestritten wie über unser Verhältnis zu Europa.
Der Bilaterale Weg ist der Königsweg
Das war bereits 1972 so, als wir über das Freihandelsabkommen mit der EU abstimmten.
Es war 1992 so, beim Nein zum EWR.
Es war 1999 so, beim Ja zu den Bilateralen.
Und es war 2001 so, beim Nein zum EU-Beitritt.
Es ist ein ständiges Seilziehen zwischen Abgrenzung und Zusammenarbeit.
Aus diesem Seilziehen sind die Bilateralen Verträge entstanden – eine massgeschneiderte Lösung für die Schweiz.
Sie sind zum Königsweg für unser Land geworden, weil sie beides vereinen:
unseren Anspruch auf Souveränität und
unser Streben nach Wohlstand.
Jede andere Option wäre schlechter - und politisch nicht mehrheitsfähig.
Dank diesem Weg konnten wir gezielt am europäischen Binnenmarkt teilnehmen, Innovation fördern, Arbeitsplätze schaffen, die Stabilität sichern.
Als der Bundesrat 2021 das Rahmenabkommen beendete – weil es sich als der falsche Ansatz herausstellte – war rasch klar:
Der bilaterale Weg soll weitergehen.
Wir stellten uns deshalb die typischste aller Schweizer Fragen:
Was müssen wir ändern, damit alles so bleibt, wie es ist?
Denn die EU hat uns klar zu verstehen gegeben: Sie lässt uns nur dann weiter am Binnenmarkt teilnehmen, wenn unsere Verträge und die Regeln des Binnenmarktes Schritt halten.
Dass die EU das ernst meint, wissen wir: Seit 2018 werden die Verträge nicht mehr aktualisiert. Besonders die Medtech-Branche und unsere Hochschulen spüren, was das bedeutet.
Ohne die EU als Partner wird der Bilaterale Weg zum Monolauf.
Unsere Möglichkeit, “à la carte” am europäischen Binnenmarkt teilzunehmen, wird nach und nach verschwinden.
Und damit ginge auch die einzige mehrheitsfähige Grundlage verloren, auf der wir unsere Beziehungen zur EU langfristig sichern können.
Natürlich kann man sich darüber ärgern, dass die EU den Status quo nicht mehr mitträgt.
Aber, meine Damen und Herren:
In der Aussenpolitik hat “Sich-Ärgern” noch nie eine Lösung gebracht.
Wir müssen akzeptieren: Auch andere Staaten haben Interessen – und für Verträge braucht es nun mal immer zwei.
Genau deshalb hat der Bundesrat im Juni dieses Jahres ein neues Paket von Abkommen mit der Europäischen Union verabschiedet.
Wir erneuern die Bilateralen Verträge, damit sie bleiben, was sie immer waren:
ein pragmatischer Kompromiss zwischen Identität, wirtschaftlicher Vernunft und geografischer Realität.
Stabilisieren und Weiterentwickeln
Geschätzte Damen und Herren, was bringt dieses Paket konkret?
Es bringt Stabilität, Rechtssicherheit und Planbarkeit – mit klaren Regeln für die Teilnahme am europäischen Binnenmarkt. Es bringt Mehrwert im Bereich Handel, Forschung, Strom, Lebensmittelsicherheit, Gesundheit und vor allem Sicherheit.
Die Personenfreizügigkeit bleibt, was sie ist – eine Freizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – nicht für alle Bürgerinnen und Bürger der EU. Und wir brauchen Fachkräfte.
Es erneuert den Schutz der Schweizer Löhne und führt eine Schutzklausel bei der Zuwanderung im Rahmen der Personenfreizügigkeit ein.
Es öffnet erneut die Türen zur wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Das ist für unsere Hochschulen von zentraler Bedeutung.
Und besonders wichtig:
Unsere direkte Demokratie bleibt erhalten!
Geschätzte Damen und Herren,
Die Schweiz ist ein Land im Herzen Europas – umgeben von Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die Stabilisierung unserer Beziehungen mit ihnen ist kein politischer Luxus, sondern eine strategische Notwendigkeit – für unseren Wohlstand und unsere Sicherheit in einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint.
Wir erreichen dieses Ziel nicht mit Experimenten, sondern indem wir erneuern, was sich bewährt hat:
Wir führen den bilateralen Weg weiter – pragmatisch, selbstbestimmt und zukunftstauglich.
Oder, um es mit einem arabischen Sprichwort zu sagen:
“Wer in Frieden mit seinem Nachbarn lebt, schläft ohne Furcht.”
Und “gut zu schlafen” ist lebenswichtig! Das sage ich Ihnen zum Schluss als Arzt.
Grazie per la vostra attenzione!
